Verfahrensfairness – oder: Warum mir ARS gefällt!

Manchmal ist es so, dass man sich lange mit etwas beschäftigt und rumüberlegt und dann kommt jemand anders daher und bringt die Gedankenwelt auf den Punkt. In dem Fall gilt mein Dank an den Kinshasa Beatboy, der mit seinem Thread zu Verhaltensfairness mir ein
Klickerlebnis machte – und ich endlich weiß, was mir eigentlich so sehr an ARS gefällt.

Nachdem wir uns schon vor kurzem mit der ARS-Geschichte und dem Begriff ARS beschäftigten, nun etwas zur Fairness im ARS:

Früher fanden sich viele SL, bei welchen Folgendes galt: „SC müssen sich bei mir schon ziemlich dumm anstellen, um zu sterben.“

Diese Aussage ist mittlerweile bei vielen Rollenspielern verpönt und solche SL werden mittlerweile vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass Realität nicht objektiv ist und dass es durchaus verschiedene Meinungen darüber gibt, ob ein Verhalten nun „dumm“ war oder eben nicht. Es wird mit breitem Konsens festgehalten, dass sich SL zu viel herausnehmen, wenn sie sich erdreisten, Spieleraktionen in dieser Form zu beurteilen.

Unter anderem im Zusammenhang mit Player Empowerment, aber auch bei Diskussionen über Erzählmeister, „Highlords“ oder SL-Willkür wird der Teufel-SL an die Wand gemalt, dessen Unfähigkeit zur Perspektivübernahme (denn um nichts anderes handelt es sich) verdammenswert ist.

Mit der Einführung von ARS und seiner Ergebnisoffenheit sowie der zwingenden Bindung auch des SL an die Regeln sollte u.a. dieses Problem gelöst werden. Der SL und die SC nutzen ihre jeweiligen Ressourcen, um in einem freundschaftlichen Wettstreit Herausforderungen zu bewältigen.

Am Ende eines Encounters oder Abends werden die Spieler für Erfolge gepriesen und manchmal anscheinend auch Spieler für Misserfolge gehänselt. Wenn im Extremfall SC sterben, wird das klaglos akzeptiert, weil die Spieler wissen, worauf sie sich eingelassen haben und alles in Ordnung ist. Es ist FAIR [1].

In allen Situationen ist bei ARS klar: es halten sich alle zwingend an die Regeln (Konsistenz), es wird offen gewürfelt (Transparenz) und es haben sich alle auf diesen Stil geeinigt (Partizipation).

Faktisch erscheint in letzter Zeit genau das obige Phänomen mangelnder Perspektivübernahme und Spielerbevormundung im Zusammenhang ARS nach meinem Eindruck in neuem Gewande und tritt beispielsweise bei der Beurteilung der Angemessenheit von Encountern auf: Spieler, welche die Lage der SC falsch einschätzen, werden da schon mal leichtfertig als „dumm“ gebrandmarkt und springen gnadenlos über die Klinge.  Die Spieler hätten mit ihren Charakteren in verzweifelten Situationen ja beispielsweise einfach fliehen und später wieder kommen, ist ein oft gehörter Einwand von SL nach dem Tod von SC.

Nun haben aber verschiedene Leute in verschiedene Situationen schlicht verschiedene Vorstellungen und Wahrnehmungen. Schließlich stehen den Spielern bei der (taktischen) Beurteilung der Lage der SC nicht etwa 5 Sinne zur Verfügung, sondern lediglich die Beschreibung des SL in Verbindung mit Hilfestellungen wie Battlemaps zur Visualisierung oder Skill Checks, welche Aussagen über die Opposition ermöglichen. Dennoch kann es in der Einschätzung natürlich sehr leicht zu Abweichungen und/oder Missverständnissen kommen.

Diese Subjektivität der Beurteilung wird jedoch beim ARS über die bindenden, transparenten Regeln nur reduziert, aber keineswegs aufgehoben. Für SL und Spieler, welche sich zu Urteilen über die Mitspieler aufschwingen, gilt deshalb unvermindert der Vorwurf der Unangemessenheit, der eben früher nur dem Erzählmeister/Highlord/Willkür-SL gemacht wurde.

Und deshalb finde ich es so daneben, Spieler für vermeintliche Erfolge zu loben oder – noch erheblich schlimmer – durch Spott oder Charaktertod oder ein schlechtes Urteil zu bestrafen. Runden, die diese Praxis pflegen, sollten sich im obigen Sinn aus meiner Sicht kritisch hinterfragen.

Außerdem gibt es nun einmal Unterschiede in Bezug auf taktische Begabung. Diese Unterschiede treten bereits beim Charakterbauen auf und bei jedem Stufenaufstieg klafft die Machtlücke der SC weiter auseinander, was sich natürlich direkt auf den Erfolg auswirkt. In den meisten Runden, die ich kenne, könnte ich jedenfalls bereits nach kurzer Zeit ziemlich gut vorhersagen, welche Spieler üblicherweise erfolgreich sind und welche nicht. Wenn man das mit dem von einigen ARS-Vertretern mehr oder weniger offen vertretenen Sozialdarwinismus verbindet, offenbart sich ein weiteres Dilemma.

Die Fähigkeit zu taktischem und strategischem Denken korreliert außerdem mit Intelligenz, Berufserfolg und sozialem Aufstieg. Es sind also tendentiell die Leute auf der Sonnenseite des Lebens, die von einer solchen Herangehensweise profitieren und die weniger Glücklichen, die auch im Spiel auf die Fresse bekommen. Ebenfalls ziemlich darwinistisch für meinen Geschmack.

Als besonders ätzend empfinde ich es schließlich, Spieler für Misserfolge auch noch zu bestrafen. Damit provoziert man Reaktanz, Schweigen, Rückzug, Absicherung und Passivität. Wer mit Lernprinzipien vertraut ist und sich zudem einmal Zusammenhänge von Selbstvertrauen mit Erfolg in unterschiedlichsten Settings anschaut hat, weiß Bescheid. Um Lichtjahre besser ist nachweislich Lob, beispielsweise in Form von Bennies, Fanmail, Aktionspunkten, Schicksalsenergie, whatever. Anstatt also Misserfolge zu bestrafen, ist es erheblich sinnvoller, Erfolge positiv zu verstärken.

In Summe:
ARS ist eine wunderbare Antwort für all diejenigen, welche sich an einer niedrigen Fairness bei anderen Rollenspielen stören, weil es die drei Grundprinzipien von Verfahrensfairness (Konsistenz, Transparenz, Partizipation) in hervorragender Weise umsetzt.

Dieser eher technische Ansatz ersetzt jedoch nicht den Sinngehalt sozial kompetenten Verhaltens. Außerdem werden die Kompetenzen des SL zwar beim ARS beschnitten, aber die Macht am Spieltisch ist noch immer eindeutig zu seinen Gunsten verteilt. Und das mag zu Reaktionen verführen, die unangemessen sind.

Bitte versteht das hier nicht als Generalangriff auf ARS. So isses nämlich nicht gemeint. Ich möchte lediglich auf ein paar Aspekte hinweisen, deren Beachtung sich aus meiner Sicht lohnen könnte.

[1]
Das Oberthema dazu heißt übrigens „Verfahrensfairness“ oder auch „prozedurale Fairness“, welche insbesondere durch drei Prinzipien entsteht:
– Die konsistente Anwendung der aufgestellten Regeln.
– Die durchgängige Transparenz der Regelanwendung.
– Die Partizipation der Konfliktbeteiligten an der Lösungsfindung oder bei ähnlichen Probleme in der Zukunft (!)

Partizipation, Konsistenz und Transparenz sind übrigens bei den massiveren SL-Eingriffen wie Railroading und goldener Regel besonders niedrig ausgeprägt und stellen in letzter Konsequenz den eigentlichen Grund für die weit verbreitete Abneigung gegen diese Techniken dar.

ARS macht offensichtlich im Hinblick auf die Verfahrensfairness sehr viel richtig, denn alle drei Prinzipien werden vorbildlich angewendet. Deshalb empfinden alle Beteiligten ARS als derartig fair und es ist eine Erklärung für die Attraktivität des Ansatzes.

(Text vom Kinshasa Beatboy im Tanelorn)

PS.: Kinshasa empfieht zur vertiefenden Lektüre das Buch: Brockner, J. (2006). Why it’s so hard to be fair. Harvard Business Review, 84(3), 122-129.

10 Kommentare

  1. 1. ARS ist nicht „eingeführt“. Es wurde höchstens benannt.

    2. Nicht alles, was verfahrensfair ist, ist ARS. (Oder aber ich bin der ARSianer vor dem Herren. Und das wollen wir doch alle nicht oder?)

    3. Nicht alles, was ergebnisoffen ist, ist ARS. (Oder aber ich bin der ARSianer vor dem Herren. Und das wollen wir doch alle nicht oder?)

    4. Normalerweise wird der Einfluss des SLs beim ARS nicht beschnitten. Der SL muss seinen Einfluss selbst beschneiden.

    Und ansonsten sind wir hier beim Spiel und nicht beim Gruppenkuscheln. Was du darwinistisch nennst, kommt jede Woche dutzendfach in der Sportschau. Quengel bei denen.

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  2. Hm, irgendwie wird hier ja der Kontext sozialer Verantwortung mit eingebracht. Weiß nicht, inwieweit das für ein Spiel relevant ist. Wenn ein Spiel – und Rollenspiel nach ARS tut es – mit klaren Herausforderungen bzw. Problemstellungen arbeitet (oft auch quantifiziert/messbar), ist das Überwinden dieser dennoch Gruppenaufgabe. Das dabei trotz alledem natürlich „Gewinner“ und „Verlierer“ anfallen, sollte niemanden überraschen – irgendwer hat immer die zündende Idee bzw. macht den besseren Wurf. Das liegt in der Natur der Sache.
    Alle Beteiligten sollten sich ja zu Beginn einer Runde darüber im Klaren sein, welche Regeln gelten (Partizipation) – und ein solcher Konsens kann ja idealerweise nur entstehen, wenn sich alle über das Reglement im Klaren sind. Etwaige Unterschiede in Sachen Regelkenntnis müssen hierbei entweder in Kauf genommen oder im Vorfeld ausgeräumt werden.
    Ist das sichergestellt, können auch „unbalancierte“ Encounter von allen Beteiligten entschärft werden – keiner der unkundigen Spieler würde mit einem Kriegsschrei auf den Lippen vorstürmen, um dem gerade per Zufallsbegegnung aufgetauchten roten Drachen den Nackenkamm zu richten. Davon abgesehen, kann ich mir ein solches Verhalten aber in keiner der Runden, in denen ich spiele bzw. SL bin, vorstellen.

    Ein Beispiel: in meiner privaten Pathfinder-Kampagne habe ich einen bunten Mix aus Spielertypen – darunter stillere, taktisch interessierte, dem ARS näher stehende wie auch spielregeltechnisch eher desinteressierte, präsentere, mehr dem ERZ zugewandte Teilnehmer. Ich habe im Vorfeld die Verwendung der taktischen Regeln inkl. Battlemat angekündigt und im Konsens wurde dies abgenickt. Ein taktisch weniger versierter bzw. interessierter Spieler wählte bewußt als Charakterklasse einen Barden, dem nicht zuletzt deshalb eher die Unterstützungsfunktion in Kampfmomenten zukommt, so daß er sich im Hintergrund halten kann. Sein Sternstunde kommt dann dafür in Momenten, in denen es um das Beschaffen bzw. Beisteuern von Informationen geht – gerade in Gesprächen mit NSC. Vom Reiz an seiner eigenen Figur und deren Geschichte mal abgesehen.
    Ironie: tatsächlich waren den eher taktisch interessierten Spielern bislang die größten „Fehlentscheidungen“ zuzuordnen… und mit denen werden sie durchaus jetzt noch aufgezogen. Beispiel Ende.

    Die Problematik unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen bei den Spielern ist aber in jedem Rollenspiel gegeben. Wo es beim ARS taktisch befähigtere Spieler sind, trumpfen beim ERZ eben extrovertiertere, emotionaler agierende Spieler auf, die dann den stilleren die „Show“ stehlen.

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  3. @1of3:

    1. Ich denk, es ist klar was Kinshasa meint, oder?

    1. ARS ist nicht “eingeführt”. Es wurde höchstens benannt.

    2. & 3.: Behauptet er auch nicht??? Er führt ja nur auf, warum diese Punkte als fair wahrgenommen werden. Egal ob im ARS oder im Brettspiel…

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  4. Ich nehm an, Du meinst nicht „Rollenspiele“ sondern „Arten Rollenspiel zu spielen“, oder wie? Wenn alle drei Elemente erfüllt sind, werden wohl auch in anderen RolloArten als fair empfunden – nur ARS stellt diese in den Vordergrund und thematisiert diese. Wie oft hab ich den Eingangssatz schon gehört („Bei mir stirbt ein Char nur, wenn er was Dummes tut“) – und wie oft hab ich ihn nicht kritisch hinterfragt – also, danke ARS. Ich sterb auch gerne, wenn mir die Würfel in die Eier treten 😉

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  5. „Diese Subjektivität der Beurteilung wird jedoch beim ARS über die bindenden, transparenten Regeln nur reduziert, aber keineswegs aufgehoben. Für SL und Spieler, welche sich zu Urteilen über die Mitspieler aufschwingen, gilt deshalb unvermindert der Vorwurf der Unangemessenheit, der eben früher nur dem Erzählmeister/Highlord/Willkür-SL gemacht wurde.“
    QFT

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  6. „Dann kannst du ARS wirklich dankbar sein. Ich hätte das schon lange vor ARS als normal angenommen.“ – aber Du liest doch selber täglich in den Foren, dass es das nicht ist. Und zugegeben, es gibt sicherlich auch gute Gründe z.B. nicht offen zu würfeln, womit aber eben ein Baustein hier wegfällt. Und gerade gestern hatte ich wieder einen Mitspieler am Tisch sitzen, der (unaufgefordert) die Ausgangsthese von sich gab (”Bei mir stirbt ein Char nur, wenn er was Dummes tut”). Ich halte also eine gelegentliche Beschäftigung mit dem Thema für nicht schlecht, auch eine kritiscvhe – weswegen ich mich besonders freue mit Kinshasas Text einen nutzen zu dürfen, der dem Phänomen ARS ja auch kritisch gegenübersteht (siehe auch Alexandro – was übrigens unbestreitbar ist. Gilt auch für jede noch so neutral geschriebene Rezi).

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  7. „Für SL und Spieler, welche sich zu Urteilen über die Mitspieler aufschwingen, gilt deshalb unvermindert der Vorwurf der Unangemessenheit…“

    Urteile über Personen? Ja, das ist Unsinn.
    Urteile über Spielhandlungen? Nein. Das ist zwingend notwendig.

    Das Problem an Aussagen wie „Charaktere sterben nur wenn sie etwas Dummes tun.“ liegt daran, dass sie von Leuten missbraucht wurden um ihre privaten Dominanzgerangel am Tisch zu rechtfertigen. Denn im Kern steckt da etwas völlig nachvollziehbares und sinnvolles dahinter. (vgl. ARS-Ursprünge als Legitimation für persönliche Machtkämpfe im Internet).

    Wenn der Spieler etwas tut, was seinen Charakter offensichtlich in Gefahr bringt, dann sollte es keine „Charakter-immunität“ dafür geben. Wer etwas riskiert, der muss auch gewillt sein zu verlieren. Wer etwas „Dummes“ tut, sollte nicht darauf bauen, dass der SL die Konsequenzen dämpfen wird.

    Aber wofür diese Aussage leider oft missbraucht wird ist: „Wer nicht das macht was ICH will, dessen Charakter mach ich fertig.“ gekoppelt mit der typischen Rückgratlosigkeit von „Ich war’s nicht, das sind die Regeln/Spielwelt/Realismus/etc.“ (Auch hier die Vergleiche zu ARS-Ursprüngen und der Feigheit von „das bin nicht ich, das ist einfach nur die Wahrheit“-Rhetorik.)

    Das ganze wird dann noch einen Zacken komplizierter zu entwirren, wenn man bedenkt, dass der gleiche Satz auch als Mittel benutzt wird um sich nicht als „unfairer oder willkürlicher Killer-SL“ darzustellen. Etwas was mit dem Satz natürlich vorne und hinten nicht machbar ist, aber sowas hält ja die meisten Leute nicht davon ab.

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